33 geistliche Worte von Sophie Scholl

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1.) Der Mensch soll ja nicht, weil alle Dinge zwiespältig sind, deshalb auch zwiespältig sein. Diese Meinung trifft man aber immer und überall. Weil wir hineingestellt sind in diese zwiespältige Welt, deshalb müssen wir ihr gehorchen. Und seltsamerweise findet man diese ganz und gar unchristliche Anschauung gerade bei den so genannten Christen.

(Sophie Scholl, 22. Mai 1940)


2.) Wie könnte man da von einem Schicksal erwarten, dass es einer gerechten Sache den Sieg gebe, da sich kaum einer findet, der sich ungeteilt einer gerechten Sache opfert. – Ich muss hier an eine Geschichte des Alten Testamentes denken, wo Mose Tag und Nacht, zu jeder Stunde, seine Arme zum Gebet erhob, um von Gott den Sieg zu erbitten. Und sobald er einmal seine Arme senkte, wandte sich die Gunst von seinem kämpfenden Volke ab. Ob er wohl auch heute noch Menschen gibt, die nicht müde werden, ihr ganzes Denken und Wollen auf eines ungeteilt zu richten?

(Sophie Scholl, 22. Mai 1940)


3.) Wenn ich auch nicht viel von Politik verstehe, und auch nicht den Ehrgeiz habe, es zu tun, so habe ich doch ein bisschen ein Gefühl, was Recht und Unrecht ist, denn dies hat ja mit Politik und Nationalität nichts zu tun. Und ich könnte heulen, wie gemein die Menschen auch in der großen Politik sind, wie sie ihren Bruder verraten um eines Vorteils willen vielleicht. Könnte einem da nicht manchmal der Mut vergehen? Oft wünsche ich mir nichts, als auf einer Robinson-Crusoe-Insel zu leben.

(Sophie Scholl, 29. Mai 1940)


4.) Manchmal bin ich versucht, die Menschheit als eine Hautkrankheit der Erde zu betrachten. Aber nur manchmal, wenn ich sehr müde bin, und die Menschen so groß vor mir stehen, die schlimmer als Tiere sind. Aber im Grunde kommt es ja nur darauf an, ob wir bestehen, ob wir uns halten können in der Masse, die nach nichts anderem als nach Nutzen trachtet. Denen, um ihr Ziel zu erreichen, jedes Mittel recht ist. Diese Masse ist so überwältigend, und man muss schon schlecht sein, um überhaupt am Leben zu bleiben. Wahrscheinlich hat es bisher nur ein Mensch fertig gebracht, ganz gerade den Weg zu Gott zu gehen. Aber wer sucht den heute noch?

(Sophie Scholl, 29. Mai 1940)


5.) Ich frage mich nur manchmal, ob wohl in früheren Jahrhunderten auch so oberflächlich gedacht und gelebt wurde wie heute. Oder ob allmählich, wenn die Zeit zu zurücksinkt, auch ihr Schlechtes in den Hintergrund tritt und das Gute besonders hell leuchtet? Jedenfalls glaube ich, dass der Einzelne, wie der Ausgang auch sei, zu wachen hat, und erst recht dann, wenn ihm das schwer gemacht wird. Du glaubst doch auch, dass man niemals dies nach oben nivellieren kann, so erstrebenswert dies auch scheint. Wenn schon nivelliert wird, dann geschieht dies immer nach unten. Aber auch hier ist uns vom Schicksal eine glänzende Gelegenheit geboten, uns zu bewähren. Vielleicht sollte man auch das nicht zu gering schätzen.

(Sophie Scholl, 14. Juni 1940)


6.) Es graust mir überhaupt unsäglich vor dem Schreiben. Das ist aber nur eine Müdigkeit, Faulheit und Leere, die Gottseidank überwunden werden muss. Auch mir ist manchmal danach zu Mute, die Waffen zu strecken. Aber, allen Gewalten zum Trotz! Es geht ja im Leben immer auf und ab. Man muss nur warten können. Ich werde versuchen, mich nicht mit Träumen zufrieden zu geben, mit Schöngeistigkeit und noblen Gesten. Man darf heute nicht sehr weichherzig sein.

(Sophie Scholl, 17. Juni 1940)


7.) Auf meinem Nachttisch stehen zwei Rosen. An die Stiele und das Blatt, die ins Wasser hängen, haben sich winzige Perlen gereiht. Wie schön und rein dies aussieht, welch kühlen Gleichmut es ausstrahlt. Dass es dieses gibt. Dass der Wald so einfach weiter wächst, das Korn und die Blumen, dass Wasserstoff und Sauerstoff sich zusammengetan haben zu solch wunderbaren lauwarmen Sommerregentropfen. Manchmal kommt mir dies mit solcher Macht zu Bewusstsein, dass ich ganz voll davon bin und keinen Platz mehr habe auch nur für einen einzigen Gedanken. Dies alles gibt es, trotzdem sich der Mensch inmitten der ganzen Schöpfung so unmenschlich und nicht einmal tierisch aufführt. Allein dies ist schon eine große Gnade.

(Sophie Scholl, 17. Juni 1940)


8.) Du findest es sicher unweiblich, wie ich Dir schreibe. Es wirkt lächerlich an einem Mädchen, wenn es sich um Politik kümmert. Sie soll ihre weiblichen Gefühle bestimmen lassen über ihr Denken. Vor allem das Mitleid. Ich aber finde, dass zuerst das Denken kommt, und dass Gefühle oft irreleiten, weil man über dem Kleinen, das einen vielleicht unmittelbarer betrifft, vielleicht am eigenen Leib, das Große kaum mehr sieht. Man kann auch einem Kind nicht sogleich alles zur Linderung bringen, wenn es weint. Denn oft ist es besser für das Werden des Kindes, wenn man nicht seinem ersten Gefühl nachgibt.

(Sophie Scholl, 28. Juni 1940)


9.) Im Kindergarten kenne ich mich nun schon eher aus, manche Kinder habe ich schon sehr liebgewonnen, und ich fühle mich glücklich, wenn sie mir ihr Gunst schenken. Jetzt erst merke ich, wie oberflächlich ich im Grunde mit Kindern umgehe. Es bedarf nicht nur des gegenüber Kindern so schnell aufwallenden Gefühls. Ich verstehe erst, welche grenzenlose Liebe man haben muss, zu allen Lebewesen, um diese unberechenbaren, oftmals bösartigen, oft herzerquickenden kindlichen Seelen überhaupt behandeln zu können. Es gibt so wenige, die soviel Liebe besitzen. Aber auch zu ihr kann man gelangen.

(Sophie Scholl, 8. Juli 1940)


10.) Da verliert sich das Herz in dieser kleinen Unruhe und vergisst seinen großen Heimweg. Unvorbereitet, an nichtige niedrige Spielereien hingegeben, könnte es von seiner Stunde überrascht werden, um kleiner Freuden willen die eine große verkauft zu haben. Ich erkenne es, mein Herz erkennt es nicht. Es träumt fort, unbelehrbar, von mir lästigen Mächten eingewiegt, schwankend zwischen Lust und Traurigkeit. … O, wenn mein Herz tausendmal an den Schätzen hängt, und sei es bloß die Liebe zum süßen Leben, reiß mich los, gegen meinen Willen, denn ich bin zu schwach, es zu tun, vergälle mir alle Freuden, laß mich elend sein und Schmerzen fühlen, bevor ich meine Seligkeit verträume.

(Sophie Scholl, Herbst 1941)


11.) Ich war Samstag Nachmittag in der Kirche. Angeblich, um Harmonium zu spielen. Es war ganz leer. Es ist eine kleine bunte Kapelle. Ich versuchte zu beten. Ich kniete hin und versuchte zu beten. Dabei aber dachte ich: du musst dich schicken, damit du bald aufstehen kannst, bevor jemand kommt. Ich hatte keine Angst, wenn fremde Menschen mich knien sehen würden. Aber vor Hildegard hatte ich Angst, sie könnte hereinkommen. So mochte ich mein Verschwiegenstes nicht preisgeben. Wahrscheinlich ist das falsch, wahrscheinlich falsche Scham. Darum wurde mein Gebet auch hastig, und ich stand auf, wie ich vorher niedergekniet war. Ich war gar nicht bereit gewesen, ich wollte bloß etwas erzwingen.

(Sophie Scholl, 4. November 1941)


12.) Manchmal meine ich, den Weg zu Gott durch meine Sehnsucht allein, durch eine ganze Hingabe meiner Seele in einem Augenblick erzwingen zu können. Wenn ich ihn sehr bitte, wenn ich ihn so über alles liebe, wenn mir das Herz so weh tut, weil ich weg bin von ihm, müsste er mich zu sich nehmen. Aber es gehören viele Schritte, viel allerwinzigste Schritte dazu, und es ist ein sehr langer Weg. Man darf nicht verzagen. Als ich einmal so verzagt war, weil ich immer wieder zurückfiel, da wagte ich es nicht mehr zu beten, ich nahm mir vor, von Gott nicht mehr zu wollen, bis ich wieder eher bestehen konnte vor seinen Augen. O, es war doch im Grunde ein Wollen zu Gott. Ich kann ihn aber immer bitten, das weiß ich jetzt.

(Sophie Scholl, 10. November 1941)


13.) Wenn ich beten will und überlege mir, zu wem ich bete, da könnte ich ganz verrückt werden, da werde ich dann so winzig klein, ich fürchte mich direkt, so dass kein anderes Gefühl als das der Furcht aufkommen kann. Überhaupt fühle ich mich so ohnmächtig, und ich bin es wohl auch. Ich kann um nichts anderes beten, als um das Betenkönnen. Weißt du, wenn ich Gott denke, da stehe ich da wie ganz mit Blindheit geschlagen, ich kann gar nichts tun. Ich habe keine, keine Ahnung von Gott, kein Verhältnis zu ihm. Nur eben, dass ich das weiß. Und da hilft wohl nichts anderes als Beten. Beten.

(Sophie Scholl, Dezember 1941)


14.) Wenn ich jemand sehr liebe, das merke ich eben, dann kann ich nichts besseres tun als ihn in mein Gebet einschließen. Wenn ich jemand mit allem guten Willen liebe, ich liebe ihn um Gottes willen, was kann ich Besseres tun, als mit dieser Liebe zu Gott zu gehen?

(Sophie Scholl, 12. Dezember 1941)


15.) Ich habe aber erfahren, dass ein harter Geist ohne ein weiches Herz ebenso unfruchtbar sein muss wie ein weiches Herz ohne einen harten Geist. Ich glaube, der Satz stammt von Maritain: Il faut avoir l’esprit dur et le coeur tendre. Ein Wort, das von der Seele nicht erlebt wird, ist ein totes Wort, und ein Gefühl, das nicht der Schoß eines Gedankens ist, ist vergeblich.

(Sophie Scholl, Januar 1942)


16.) Musik aber macht das Herz weich; sie ordnet seine Verworrenheit, löst seine Verkrampftheit und schafft so eine Voraussetzung für das Wirken des Geistes in der Seele, der vorher an ihren hart und verschlossenen Pforten vergeblich geklopft hat. Ja, ganz still und ohne Gewalt macht die Musik die Türen der Seele auf. Nun sind sie offen! Nun ist sie bereit, aufzunehmen. Dieses ist die letzte Wirkung, die Musik auf mich ausübt, die sie mir notwendig macht in diesem Leben. Und so wenig ich mich wasche um des Wassers willen, das ich dazu benötige, so wenig höre ich Musik um der Musik willen.

(Sophie Scholl, Januar 1942)


17.) Weißt du, bei diesen Überlegungen über den Hunger, der im Menschen ist, und für den Musik nichts anderes ist als die Luft für eine Flamme, nur noch zu hellerer Glut anfachend – bei diesen Überlegungen ist mir zum Bewusstsein gekommen, wie wir doch verhungern müssten, würde Gott uns nicht nähren: und dass es nicht nur der eine lange Faden ist, mit dem wir an Gott geknüpft sind durch die Schöpfung, wie es mir früher schien, wo ich noch nicht wusste, was ein Leben ist, zumal ein Menschenleben.

(Sophie Scholl, Januar 1942)


18.) Ich habe mir vorgenommen, jeden Tag in der Kirche zu beten, damit Gott mich nicht verlasse. Ich kenne Gott ja noch gar nicht und begehe sicher die größten Fehler in meiner Vorstellung von ihm, aber er wird mir das verzeihen, wenn ich ihn bitte. Wenn ich ihn von ganzer Seele lieben kann, dann werde ich meinen schiefen Blick verlieren.

(Sophie Scholl, 12. Februar 1942)


19.) Wenn ich die Menschen um mich herum ansehe, und auch mich selbst, dann bekomme ich Ehrfurcht vor dem Menschen, weil Gott seinetwegen herabgestiegen ist. Auf der anderen Seite wird mir dies dann immer am unbegreiflichsten. Ja, was ich am wenigsten an Gott begreife, ist seine Liebe. Und doch, wüsste ich nicht von ihr! O Herr, ich habe es sehr nötig, zu beten, zu bitten. Ja, das sollte man immer bedenken, wenn man es mit anderen Menschen zu tun hat, dass Gott ihretwegen Mensch geworden ist. Und man fühlt sich selbst zu gut, zu manchen von ihnen herabzusteigen! O ein Hochmut! Woher habe ich ihn nur?

(Sophie Scholl, 12. Februar 1942)


20.) So sehr ich das Bedürfnis nach dieser Art des Gottesdienstes habe, … braucht es doch sicher eine Übung oder Gewohnheit, um ganz mitzuerleben und nicht abgelenkt zu werden von dem Schauspiel, das einem geboten wird. Dieses Schauspiel gerade wird ja ein tiefes inneres Erlebnis, wenn man den Glauben hat. Da geht es mir aber so: ich möchte hinknien, weil es richtig ist meinem Empfinden nach, aber ich habe Hemmungen vor denen, die mir zuschauen könnten, vor allem, wenn jemand Bekanntes dabei ist. Ich möchte mich beugen vor einem Bilde Gottes, weil man nicht nur empfinden, sondern dieses auch äußern müsste, aber wiederum habe ich Hemmungen. Deshalb bin ich nie ungeteilt dabei, wenigstens bis jetzt noch nicht.

(Sophie Scholl, 5. April 1942)


21.) Mein Gott, ich kann nichts anderes als stammeln zu Dir. Nichts anderes kann ich, als Dir mein Herz hinhalten, das tausend Wünsche von Dir wegziehen. Da ich so schwach bin, dass ich freiwillig nicht Dir zugekehrt bleiben kann, so zerstöre mir, was mich von Dir wendet, und reiß mich mit Gewalt zu Dir. Denn ich weiß es, dass ich nur bei Dir glücklich bin, ach, wieweit bin ich weg von Dir, und das beste an mir ist noch der Schmerz, den ich darüber empfinde. Doch ich bin so tot und stumpf oft.

(Sophie Scholl, 29. Juni 1942)


22.) Hilf mir einfältig werden, bleibe bei mir, o, wenn ich einmal Vater sagen könnte zu Dir. Doch kann ich Dich kaum mit „Du“ anreden. Ich tue es, in ein großes Unbekanntes hinein, ich weiß ja, dass Du mich annehmen willst, wenn ich aufrichtig bin, und mich hören wirst, wenn ich mich an Dich klammere. Lehre mich beten. Lieber unerträglichen Schmerz als ein empfindungsloses Dahinleben. Lieber brennenden Durst, lieber will ich um Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen beten, als eine Leere zu fühlen, eine Leere, und sie zu fühlen ohne eigentliches Gefühl. Ich möchte mich aufbäumen dagegen.

(Sophie Scholl, 29. Juni 1942)


23.) Wie ein dürrer Sand ist meine Seele, wenn ich zu Dir beten möchte, nichts anderes fühlend als ihre eigene Unfruchtbarkeit. Mein Gott, verwandle Du diesen Boden in eine gute Erde, damit dein Samen nicht umsonst in sie falle, wenigstens lasse auf ihr die Sehnsucht wachsen nach Dir, ihrem Schöpfer, den sie so oft nicht mehr sehen will. Ich bitte Dich von ganzem Herzen, zu Dir rufe ich, „Du“ rufe ich, wenn ich auch nichts von Dir weiß, als dass in Dir allein mein Heil ist, wende Dich nicht von mir, wenn ich Dein Pochen nicht höre, öffne doch mein taubes Herz, mein taubes Herz, gib mir die Unruhe, damit ich hinfinden kann zu einer Ruhe, die lebendig ist in Dir.

(Sophie Scholl, 15. Juli 1942)


24.) O, ich bin ohnmächtig, nimm Dich meiner an und tue mir nach Deinem guten Willen, ich bitte Dich, ich bitte Dich. Dir in die Hand will ich meine Gedanken legen an meinen Freund, diesen kleinen Strahl der Sorge und der Wärme, diese winzige Kraft, verfüge Du mit mir nach Deinem besten, denn Du willst es, dass wir bitten und hast uns auch im Gebet für unseren Bruder verantwortlich gemacht. So denke ich an alle anderen. Amen.

(Sophie Scholl, 15. Juli 1942)


25.) So schwach bin ich, dass selbst das von mir erkannte nicht in meinem Leben wahr und wirksam wird, und nimmer vermag ich es, meinen Willen, von dem ich weiß, dass er unklug und eigensüchtig ist, aufzugeben und mich Seinem Willen zu überlassen. Und doch möchte ich es und bin glücklich bei dem Gedanken, dass er es ist, der alles regiert. Jeden Abend bete ich, dass er meinen Willen, den ich nicht aus meinen törichten Händen freiwillig lassen kann, mir herausreiße, um mich unter seinen zu stellen, den ich doch schon lange als gut erkannt habe und dem ich dienen möchte – wenn ich nicht selbst mir im Weg stünde.

(Sophie Scholl, 6. August 1942)


26.) Um ein mitleidiges Herz bitte ich, wie könnte ich sonst lieben? O, da ich in allem so seicht bin, muss ich alles erbitten. Ein Kind kann mitleiden, aber ich vergesse oft die Schmerzen, die mich doch erdrücken müssten, die Schmerzen der Menschen. Und meine ohnmächtige Liebe lege ich in Deine Hand, damit sie mächtig wird.

(Sophie Scholl, 6. August 1942)


27.) Viele Menschen glauben von unserer Zeit, dass sie die letzte sei. All die schrecklichen Zeichen könnten es glauben machen. Aber ist dieser Glaube nicht von nebensächlicher Bedeutung? Denn muss nicht jeder Mensch, einerlei in welcher Zeit er lebt, dauernd damit rechnen, im nächsten Augenblick von Gott zur Rechenschaft gezogen zu werden? Weiß ich denn, ob ich morgen früh noch lebe? Eine Bombe könnte uns heute nacht alle vernichten. Und dann würde meine Schuld nicht kleiner, als wenn ich mit der Erde und den Sternen zusammen untergehen würde. – Das weiß ich alles. Aber lebe ich nicht trotzdem leichtsinnig dahin? O mein Gott, ich bitte Dich, nimm meinen leichten Sinn und meinen eigensüchtigen Willen, der an den süßen, verderblichen Dingen hängen bleiben will, von mir, ich vermag es nicht, ich bin viel zu schwach.

(Sophie Scholl, 9. August 1942)


28.) Ich kann es nicht verstehen, wie heute „fromme“ Leute fürchten um die Existenz Gottes, weil die Menschen seine Spuren mit Schwert und schändlichen Taten verfolgen. Als habe Gott nicht die Macht (ich spüre, wie alles in seiner Hand liegt), die Macht. Fürchten bloß muss man um die Existenz der Menschen, weil sie sich von Ihm abwenden, der ihr Leben ist.

(Sophie Scholl, 9. August 1942)


29.) Wie kann ich glücklich sein, wenn ich Brüder unglücklich weiß? Es war mir auch immer unverständlich (wenn ich den Fehler auch nur in meiner Unzulänglichkeit, sonst nirgendwo, suchte), dass der Lazarus im Schoße Abrahams dem durstigen Reichen in der Hölle einen einzigen Tropfen Wassers versagte. ... Für mich ist diese Frage schrecklich und ausweglos, vielleicht kann die Antwort darauf nur geglaubt werden – weil die Hölle ein ebenso großes Geheimnis ist wie der Himmel. Ich merke, dass mein Brief aus lauter „Vielleicht“ besteht. Kannst Du mir helfen, dieses Vielleicht zu beseitigen? Doch auch wenn es bestehen bleiben muss, bedeutet dies für mich oder von mir keinen Zweifel; warum sollte ich an einer Wahrheit zweifeln, bloß weil sie mir noch verborgen ist?

(Sophie Scholl, 9. Oktober 1942)


30.) Im Römerbrief heißt es: ... Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, hat mich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. – Sind jene nicht arm, entsetzlich arm, die dies nicht wissen und glauben? Diese ihre Armut müsste uns immer wieder geduldig machen ihnen gegenüber (und das Bewusstsein unserer eigenen Schwachheit, denn was wären wir, allein gelassen), selbst wenn ihr dummer Hochmut uns zornig machen möchte.

(Sophie Scholl, 28. Oktober 1942)


31.) Ich bin Gott noch so ferne, dass ich ihn nicht einmal beim Gebet spüre. Ja, manchmal, wenn ich den Namen Gottes ausspreche, will ich in ein Nichts versinken. Das ist nicht etwa schrecklich, oder schwindelerregend, es ist gar nichts – und das ist noch viel entsetzlicher. Doch hiflt dagegen nur das Gebet, und wenn in mir noch so viele Teufel rasen, ich will mich an das Seil klammern, das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat, und wenn ich es nicht mehr in meinen erstarrten Händen fühle.

(Sophie Scholl, 18. November 1942)


32.) Die Prädestination und der freie Wille, diese beiden anscheinend nicht vereinbaren Gegensätze – jetzt machen sie mir eigentlich nicht mehr viele Schmerzen, obwohl ich sie so wenig erklären kann wie vorher. Dass Gott allwissend ist, daran glaube ich, und die notwendige Folgerung daraus ist, dass er auch von jedem einzelnen weiß, was nach der Zeit ist. Dies verlangt auch seine Eigenschaft als unendlicher Gott. Meinen freien Willen fühle ich, wer kann ihn mir beweisen!

(Sophie Scholl, 12. Januar 1943)


33.) Ich glaube, es ist schon ein Unterschied zwischen Vorbestimmen und Vorauswissen. Vorbestimmung lässt sich für mich viel schwerer, fast gar nicht eigentlich, mit dem freien Willen vereinbaren. Vorherwissen viel eher, obwohl es noch unbegreifliches Geheimnis bleibt. Übrigens ist „Vorherwissen“ menschlich gesprochen, da Gott ja nicht an unsre Zeit gebunden ist, man müsste die Vorsilbe „Vorher“ streichen und nur Wissen sagen.

(Sophie Scholl, 12. Januar 1943)

 

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