1. Kapitel

„Wer hat sich mal informiert, 
was ‚oral history’ bedeutet?“



(…) „Ich wollte ja heute mit euch die Einzelheiten zu unserem Interview-Projekt besprechen“, begann er. „Wer hat sich mal informiert, was ‚oral history’ bedeutet?“ Wenn Hübner englische Worte aussprach, klang das irgendwie schüchtern. Dabei bemühte er sich um eine amerikanische Aussprache. „Olle Hysterie?“ hatte Jule letzte Woche laut in die Klasse hineingerufen, und Hübner hatte ganz verlegen geguckt. „Nun, was meint der Begriff?“, fragte Hübner. Schweigen.

Schließlich meldete sich Lena: „Mündliche Überlieferung“. „Genau!“, nickte Hübner. „Und wer kann das näher erläutern?“ – „Ich hab da mal im Internet nachgeschaut“, meldete sich Tina und faltete ein Blatt auseinander. „Prima!“ sagte Hübner. „Lass hören.“ Tina strich das Blatt gerade und las ihren Internetausdruck vor:  „Oral History ist eine Methode der Geschichtswissenschaft, die auf der Befragung von Zeitzeugen basiert. Dabei sollen die Zeitzeugen möglichst wenig vom Historiker beeinflusst werden. Nicht nur, aber gerade Personen aus der Unterschicht sollen auf diese Weise ihre Lebenswelt und Sichtweisen für die Nachwelt darstellen können.“ Tina blickte auf. „Das war’s?“ fragte Hübner. Sie nickte. „Gut“, meinte Hübner und stand auf. Er schrieb mit großen Buchstaben ORAL HISTORY auf die Tafel und klopfte mit dem Zeigefinger daneben. „Das ist für die nächsten Wochen unser Thema.“ – „Sind wir etwa aus der Unterschicht?“ fragte Tobias mit gespielter Empörung. Ein paar Lacher blieben verhalten. „Wäre das schlimm?“ fragte Hübner lächelnd. Dann fuhr er fort: „Nein, im Ernst. Ihr sollt euch auf die Suche nach Zeitzeugen machen und sie befragen.“ 

Sein Blick wanderte durch die Klasse. „Ihr wisst, dass in diesem Halbjahr das Dritte Reich auf dem Lehrplan steht.“ Hübner schaute jetzt zum Fenster. „Es gibt viele Quellen aus dem Dritten Reich, aus denen die Geschichtsforscher schöpfen können. Welche sind das beispielsweise? Tina?“ – „Etwa Urkunden und Akten von Behörden.“ – „Gut. Was noch?“ – Timo meldete sich: „Alte Filme oder Wochenschauberichte.“ – „Richtig.“ – Hendrik zeigte auf: „Alte Briefe oder Tagebücher.“ – „Sehr gut!“, sagte Hübner. „Alles gute Beispiele. Aber warum muss man mit diesen Informationsquellen kritisch umgehen?“ – „Weil sie gefälscht sein könnten!“, meinte Tobias. „Oder weil sie nur die Sichtweise der Machthaber ausdrücken“, ergänzte Martin. „Und als Kritiker des Regimes konnte man kaum frei in Briefen schreiben, was man dachte“, sagte Tina. „Gut auf den Punkt gebracht“, lobte Hübner. „Deshalb will ‚oral history’ eine Ergänzung der vorhandenen Geschichtsquellen sein. Für euch heißt das, dass ihr in der nächsten Zeit Menschen interviewen sollt, die aus eigener Anschauung erzählen sollen, was sie noch aus dem Dritten Reich wissen. Oder noch besser: Was sie selbst erlebt haben“. – „Dann müssen wir uns aber beeilen“, grinste Jule. „Die sind doch schon bald hundert“. Hübner blieb ernst. „Na ja, nicht ganz. Aber um die achtzig und älter sind die Herrschaften schon, denen ihr einen Besuch abstatten werdet.“ – „Mich ziehen keine zehn Pferde in so eine Knacker-Absteige!“ rief  Jule. „Knacker-Absteige?“, fragte Hübner. „Na ja, ich meine ...“, druckste Jule herum. „Ich meine Altenheime. Ich gehe halt nicht so gern in Altenheime.“ – „Dann könntest du ja einen alten Menschen zu dir nach Hause einladen“, entgegnete Hübner. Seine Stimme klang plötzlich zornig, auch wenn er weiter ruhig und leise sprach. Dann wandte er sich wieder der Klasse zu. „Ihr werdet tatsächlich mit dem einen oder anderen alten Menschen Kontakt aufnehmen und einen oder mehrere Gesprächstermine ansetzen“, erklärte Hübner. „Je nachdem, wie auskunftsfreudig euer Gesprächspartner ist.“ – „Und worüber sollen wir sprechen?“, fragte Timo. Hübner lächelte: „Ihr sollt vor allem zuhören und die alten Leute erzählen lassen“, meinte er. „Na gut“, sagte Timo, „aber worüber werden die denn sprechen?“ – „Ich habe schon einige Themen zusammengestellt und einige alte Leute angefragt, ob sie als Zeitzeugen Auskunft geben.“ – „Also dürfen wir die Themen nicht selbst aussuchen?“, erkundigte sich Tobias. „Doch, auch“, meinte Hübner. „Wer eigene Ideen hat und auch passende Zeitzeugen findet, kann sich mit mir besprechen und dann seine Interviewaktion mit seinem eigenen Thema durchziehen.“ Sofort steckten Tobias und Hendrik die Köpfe zusammen und beratschlagten. „Hey, entspannt euch!“, rief Hübner fröhlich in ihre Richtung. „Hört doch erst mal zu, was ich so im Angebot habe.“ Alle in der Klasse waren plötzlich ganz aufmerksam, als ob Noten verlesen würden. Hübner setzte sich wieder ans Pult, holte einen Schnellhefter aus der Aktentasche und schlug ihn auf. (…)

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