„Galen interessiert mich
überhaupt nicht.“
Gekonnt bog Timo in die Einfahrt des elterlichen Gartenbaubetriebs ein. Mit einer Mischung aus Stolz und auch Traurigkeit las er jeden Tag das große Schild mit der Aufschrift „Gartenzauber – Landschaftsdesign – Robert Gerlings“. Stolz war Timo schon auf seine Eltern, die sich mit viel Fleiß und unternehmerischem Geschick von dem kleinen Gemüsebauern zu einem großen Gartenbauunternehmen hochgearbeitet hatten. Traurig und wütend machte ihn aber, dass seine Eltern nur noch den Betrieb im Kopf zu haben schienen. Besonders, wenn die Auftragslage mal wieder nicht so rosig aussah, war die Stimmung im Hause Gerlings kaum auszuhalten.
Mit einem leisen Seufzen bockte Timo seinen Motorroller vor der Haustür auf und beeilte sich in die Küche zu kommen. Der Duft, der ihn empfing, war viel versprechend: Bratwurst, Kartoffeln und Rotkohl. Seine Mutter stand am Herd und telefonierte. Diese Situation kannte Timo nur zu gut: immer zwei Sachen gleichzeitig erledigen – das war seine Mutter! Sie legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Alles klar; was Geschäftliches. Ich bin doch kein Baby mehr, dachte Timo zornig, ich quatsche schon nicht dazwischen.
„Doch, natürlich, der Auftrag geht klar. Ich rufe Sie heute noch an, wenn ich mit meinem Mann die Einzelheiten besprochen habe. Bis dahin! Auf Wiederhören!“, beendete Frau Gerlings das Gespräch und notierte gleich darauf ein paar Dinge auf einem Notizblock. Dann schaute sie kurz zu ihrem Sohn auf. „Na, wie war´s in der Schule? Alles klar, oder?“ Ohne wirklich eine Antwort hören zu wollen, begann Frau Gerlings den Tisch zu decken. Gestresst blickte sie auf die Uhr. Das Essen sollte in wenigen Augenblicken auf dem Tisch stehen. Und richtig: um Punkt halb zwei kam Timos Vater in die Küche und nahm auf der rustikalen Eckbank Platz. Nach einem gemurmelten „Guten Appetit“ starteten die Gerlings mit dem Essen.
„In der Schule war es gut heute“, wollte Timo das Gespräch beginnen. „Stellt euch vor, wir planen eine Ausstellung im Museum.“ – „Was wollt ihr denn ausstellen?“, fragte Timos Vater, der kaum zugehört hatte und beim Essen die Notizen seiner Frau studierte. „Wie viel Quadratmeter Rollrasen sollen verlegt werden?“, fragte er sie. Frau Gerlings tippte genervt auf den Zettel. „Steht doch alles da!“, antwortete sie knapp. Dass ihr Sohn ihnen gerade etwas erzählen wollte, hatten beide ignoriert. „Falls es euch doch noch interessiert“, erzählte Timo einfach weiter, „wir sammeln Erinnerungsstücke aus dem Dritten Reich. Und ihr kommt bestimmt nicht drauf, was wir für einen tollen Fund gemacht haben.“ Timo machte eine kleine Pause, um seine Eltern neugierig zu machen. In aller Ruhe zerdrückte er eine Kartoffel in der Soße und aß genüsslich weiter. „Robert, wenn wir den Auftrag bekommen wollen, müssen wir noch ein paar Sachen besprechen. Dann kann ich den Kunden später noch mal anrufen.“ Timo konnte es kaum glauben – aber warum sollte es heute einmal anders sein? Seine Eltern wollten gar nicht wissen, was er zu erzählen hatte. Er schluckte, obwohl er gar nichts mehr im Mund hatte. „Wollt ihr nun was über die Ausstellung wissen? Oder hört ihr nur zu, wenn es um euren Betrieb geht?“ Beschämt sah Frau Gerlings ihren Sohn an: „Ich höre dir ja zu. Also was ist mit der Ausstellung?“ – „Stellt euch vor, wir haben von der alten Frau Obermayer eine Druckmaschine bekommen. Auf der haben die Mitglieder der Weißen Rose ihre Flugblätter gedruckt.“ –
„Weiße Rose, Rosa Alba.“ Da war Herr Gerlings sofort in seinem Element: „Die Alba-Rosen gehören zu den ältesten Rosenzüchtungen“ – „Nein, Papa! Ihr wisst doch – Widerstand im Dritten Reicht und so.“ Jetzt dämmerte es bei Timos Vater. „Da steckt doch sicher euer Geschichtslehrer dahinter, dieser Herr Hübner. Der hat ja schräge Ideen.“ Der Ärger in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Was ist denn los? Wieso ärgert dich das so?“, wunderte sich Frau Gerlings. „Was mich ärgert? Ganz einfach. Ich habe doch von dieser schrecklichen Schulausschusssitzung erzählt. Unsereins muss jeden Tag strampeln, um Aufträge an Land zu ziehen. Und diese feinen Damen und Herren Pädagogen zerbrechen sich ihre studierten Köpfe darüber, ob man der Schule einen neuen Namen verpasst.“ Energisch hieb er mit seinem Messer in die Bratwurst auf seinem Teller. „Hübners Sorgen möchte ich mal haben! Ich persönlich werde jedenfalls zusehen, dass wir jetzt endlich den Auftrag bekommen. Da hätten wir einen echt dicken Fisch an der Angel: Die Begrünung der gesamten Außenanlage ...“ Herr Gerlings klang fast schwärmerisch. „Dann wären unsere Geldsorgen erst mal vom Tisch“, ergänzte seine Frau. Timo schaute seine Eltern fassungslos an. Was sollte er ihnen jetzt noch von der Ausstellung erzählen? Oder von seiner Begeisterung für Herrn Hübner – und von der Idee, nach Münster zu fahren? Timo nahm all seinen Mut zusammen und konterte: „Was weißt du schon über Herrn Hübner? So einen guten Lehrer gibt es an der Schule nicht noch mal.“ Er warf sein Besteck neben den Teller. „Und was passt dir nicht an der Idee, die Schule nach dem Bischof von Galen zu benennen?“ – „Von Galen interessiert mich überhaupt nicht“, fauchte sein Vater. „Die da oben sollen mal so langsam die wirklich wichtigen Entscheidungen treffen. Nämlich, dass wir endlich grünes Licht für den Auftrag bekommen.“
Frau Gerlings hatte sehr wohl mitbekommen, wie sehr Timo das nahe ging, was ihr Mann da eben von sich gegeben hatte. Versöhnlich fragte sie ihren Sohn: „Von Galen, war der nicht im Dritten Reich Bischof von Münster? Ich habe da mal in einer Reportage im Fernsehen was aufgeschnappt.“ Timos Gesicht hellte sich ein wenig auf. „Ja, er war Bischof von Münster und ist sofort nach Kriegsende zum Kardinal ernannt worden. Sein Grab ist in Münster im Dom.“ Jetzt oder nie!, dachte Timo. Und so erzählte er seinen Eltern, dass seine Freunde auf die Idee gekommen waren, mit ihrem Lehrer Hübner nach Münster zu fahren. Herr Gerlings, der soeben schweigend sein Mittagessen beendet hatte, meldete sich wieder zu Wort: „Ich glaub, ich höre nicht richtig! Gerade habe ich dir erklärt, was ich von diesen Hübner-Spinnereinen halte! Und du erzählst uns fröhlich, dass ihr Schüler diesen ganzen Quatsch noch vorantreiben wollt.“ Er schüttelte fassungslos den Kopf, und das war nicht gespielt. „Unglaublich! Ich kann es mir nicht leisten, dass mir am Ende der Auftrag doch noch durch die Lappen geht, nur weil ...“ Herr Gerlings schnappte nach Luft. „... weil mein Sohnemann sich mit dieser Galen-Idee in die Kommunalpolitik wirft! Die Stimmung im Schulausschuss war jetzt schon alles andere als entspannt.“ Timo wollte etwas erwidern, aber sein Vater war offensichtlich noch nicht fertig: „Ich erlaube dir nicht, bei dieser Tour mitzumachen. Ende der Diskussion.“ (…)