„Und es gibt Menschen,
die nicht so denken.“
(…) „Guten Tag, Frau Obermayer. Ich bin Jule Meurer und bringe Ihnen von meinem Vater, dem Apotheker Meurer, die bestellten Flaschen Traubensaft.“ Jule hielt eine weiße Plastiktüte hoch. „Bitte schön, wo soll ich die hinstellen?“ – „Ach, danke, Jule. Bitte hier auf das Tischchen. Katharina, sei so gut und hol uns doch bitte drei Gläser.“ Katharina wunderte sich, dass Frau Obermayer jetzt gleich mit ihnen den Saft trinken wollte. Vor allem aber freute sie sich, dass Frau Obermayer trotz ihrer offensichtlichen körperlichen Einschränkungen heute richtig lebendig wirkte. „Ihr habt doch beide etwas Zeit, oder etwa nicht?“ Jule wollte sich eigentlich schnell davonstehlen, aber irgendwie brachte sie es nicht übers Herz, Frau Obermayers Einladung abzulehnen. „So jugendlicher Besuch lässt mich für einen Moment meine alten Knochen vergessen.“
Alte Knochen! Mit einem verlegenen Lächeln schob Jule die zwei wuchtigen Sessel zu Frau Obermayer an den Tisch. Du bist hier nicht bei deinen scheintoten alten Säcken! – so hatte Jule im Sommer einmal Katharina hinterher gerufen. Damals fand sich Jule sehr schlagfertig. Und jetzt wurde sie freundlich bewirtet – von einem „alten Sack!“ Hier und jetzt, in Frau Obermayers Zimmer, fühlte sich Jule nicht mehr so selbstsicher. Vielleicht auch, weil die übrigen „Eckhart-Jünger“ nicht da waren. Katharina schenkte Traubensaft in die drei Gläser, und die beiden Mädchen nahmen Platz. „Jule, gehst du in die gleiche Klasse wie Katharina und Jakob?“ – „Nein, ich bin bei Martin und Lena. In der 10b.“ Frau Obermayer fuhr fort: „Bitte gib mir doch mal die Zettel, die auf meinem Nachttisch liegen. Das dürfte euch dann ja beide interessieren.“ Jule brachte Frau Obermayer die gewünschten Papiere. „Clemens August von Galen am 3. August 1941, Münster St. Lamberti“ – So war der Text überschrieben. „Wollen Sie uns jetzt etwa eine Predigt halten?“ Jule konnte es nicht lassen, doch mal wieder eine freche Bemerkung loszuwerden. Aber Frau Obermayer lächelte. „Ich – euch eine Predigt halten? Nein, aber ich würde gerne mit euch über eine Predigt sprechen. Und auch nicht über irgendeine Predigt, sondern über eine sehr wichtige und auch berühmte.“ Innerlich musste Katharina ein wenig schmunzeln. Frau Obermayer nahm wie selbstverständlich an, dass Jule sich so wie ihre Klassenkameraden Martin, Lena und Timo für den Bischof von Galen interessieren würde. Jule fühlte sich tatsächlich hin und her gerissen: in ihrer Clique fühlte sie sich sicher, wenn es darum ging, Einstellungen und Meinungen anderer zu zerreden und sich über sie lustig zu machen. Hier aber, im Zimmer von Frau Obermayer spürte sie, dass es gut war, mit der freundlichen alten Frau zu sprechen. Und auch fand sie es angenehm, dass Katharina sich ihr gegenüber so kameradschaftlich benahm. Sie war sogar ehrlich gespannt darauf, über was genau sich Frau Obermayer mit ihnen austauschen wollte. Da nimmt ein Erwachsener uns richtig ernst und will unsere Meinung hören. Cool!, dachte Jule.
„Also, hört mal zu.“ Frau Obermayer vertiefte sich in die Seiten, schaute dann aber noch mal auf. „Ach, da fällt mir noch was Wichtiges ein. Bestellt eurem Freund Jakob ein ganz herzliches Dankeschön dafür, dass er mir diese Seiten gebracht hat.“ Das starke Zittern von Frau Obermayers Händen ließ die Blätter laut rascheln. Das Zittern war heute so stark wie schon lange nicht mehr. Jule fragte sich gerade, wie denn Frau Obermayer die Textzeilen entziffern könnte. Da stand Katharina auf, nahm das dicke Kissen vom Bett und legte es Frau Obermayer in den Schoß. Mit einem dankbaren Blick platzierte die alte Frau nun die Zettel auf dieser Unterlage. „Als ich vor ein paar Tagen die drei berühmten Predigten von Clemens August von Galen gelesen habe, bin ich sehr nachdenklich geworden. Ich hatte schon viel von diesen Texten gehört. Ich wusste, dass Galen damals sehr mutig und deutlich gesprochen hat. Und auch hatte ich noch in Erinnerung, dass Mitschriften vervielfältigt und verteilt wurden. Die Geschwister Scholl wurden in ihrem Denken und auch Handeln von diesen Schriften beeinflusst.“ Frau Obermayer schaute ihre Besucherinnen nun direkt an. „Aber jetzt habe ich seine Worte zum ersten Mal selbst gelesen. Nach so vielen Jahrzehnten! Ein paar Sätze würde ich euch jetzt gerne vorlesen.“ Sie rückte ihre Brille zurecht, dann begann sie mit relativ leiser Stimme zu lesen. „So müssen wir damit rechnen, dass die armen, wehrlosen Kranken über kurz oder lang umgebracht werden. Warum? Man urteilt: sie können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft. Was tut man mit solch alter Maschine? Sie wird verschrottet. Es handelt sich hier ja nicht um Maschinen.“ Frau Obermayer richtete sich etwas in ihrem Rollstuhl auf. „Hast du“, las sie weiter, doch dann schaute sie erst Jule und dann Katharina kurz an, bevor sie noch einmal ansetzte, „hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden?“
Frau Obermayer machte eine Pause, und Katharina war sich nicht sicher, ob sie noch weiter lesen wollte oder fertig war. Doch dann las Frau Obermayer mit brüchiger Stimme weiter: „Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den ‚unproduktiven’ Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden!“ Die letzten Worte konnte Frau Obermayer nur mit Mühe hervorbringen, sie war den Tränen nahe. Auch Katharina war sehr angerührt von diesen Sätzen und schaute vorsichtig zu Jule hinüber. Die saß völlig steif, mit verschränkten Armen in ihrem Sessel und blickte durch die Terrassentür nach draußen. Man hätte meinen können, sie habe von dem Vorgelesenen gar nichts mitbekommen. Frau Obermayer räusperte sich kurz und fuhr fort: „Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, ‚unproduktive’ Mitmenschen zu töten – und wenn es jetzt zunächst auch nur arme wehrlose Geisteskranke trifft –, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den arbeitsunfähigen Krüppeln, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach sind und damit unproduktiv werden, freigegeben. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher.“ Umständlich holte Frau Obermayer ein Taschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke und putzte sich geräuschvoll die Nase.
Es herrschte Stille in dem kleinen gemütlichen Zimmer. Jule war die erste, die das Schweigen brach: „Ach, schon so spät!“ Mehr sagte sie nicht. Sie schaute auf ihre Armbanduhr, dann wieder hinaus in den Garten. Katharina reichte ihrer alten Freundin das Glas Traubensaft. Dankbar nahm Frau Obermayer es an. „Was sagt ihr über diese Worte?“ – „Sie machen mich sehr traurig“, antwortete Katharina, „vor allem, wenn ich daran denke, wie dieser Vergleich mit der alten kaputten Maschine für einen alten Menschen klingen muss. Es gibt ja wirklich heute noch – oder auch wieder – Menschen, die so ähnlich denken.“ Den letzten Satz hatte sie ganz leise gesprochen. „Und es gibt heute wie damals Menschen, die nicht so denken“, erwiderte Frau Obermayer. „Ihr beide etwa!“ Jule bekam einen roten Kopf. „Immer, wenn du mich besuchst, Katharina, merke ich, dass ich zwar zum alten Eisen gehöre. Galen würde sagen, dass ich eine alte Maschine bin. Aber ich merke, dass es auf andere Dinge ankommt, als allein auf Jugend und Kraft.“ Jetzt legte Frau Obermayer ihre zitternde Rechte auf Katharinas Hand, die noch auf ihrer linken Hand ruhte. Eine Weile schauten alle drei ohne zu sprechen aus dem Fenster. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Kleine Flocken fielen aus dem grauen Himmel. Der Wind hatte nachgelassen. (…)